Obergerichtliche Rechtsprechung
Unterhaltsrecht
BGH, Beschluss vom 18.05.2022 – Az. XII ZB 325/20 – §§ 1602, 1606, 1610 BGB
FamRZ 2022, Seite 1366 ff.
- Das mietfreie Wohnen beeinflusst nicht die Höhe des Kindesunterhalts. Die kostenfreie Zurverfügungstellung von Wohnraum wird vorrangig im unterhaltsrechtlichen Verhältnis zwischen den Eltern ausgeglichen. Ein unterhaltsrechtlicher Ausgleich kann auch darin bestehen, dass der Betreuungselternteil keinen Anspruch auf Trennungsunterhalt geltend machen kann, weil nach der Zurechnung des vollen Wohnwerts keine auszugleichende Einkommensdifferenz zwischen den Eltern mehr besteht.
- Die Eltern können eine – nach den Umständen des Einzelfalls gegebenenfalls auch konkludente – Vereinbarung darüber treffen, dass die Wohnungskosten durch den Naturalunterhalt des Barunterhaltspflichtigen abgedeckt werden. Für die Erfüllung des Barunterhaltsanspruchs (§ 362 BGB) aufgrund einer solchen Vereinbarung trifft den Barunterhaltsschuldner die Darlegungs- und Beweislast.
- Bevor die Haftungsquote für den anteiligen Mehrbedarf bestimmt wird, ist von den Erwerbseinkünften des betreuenden Elternteils der Barunterhaltsbedarf der Kinder nach den gemeinsamen Einkünften der Eltern abzüglich des hälftigen auf den Barunterhalt entfallenden Kindergelds und abzüglich des vom Kindesvater geleisteten Barunterhalts abzusetzen. In der verbleibenden Höhe leistet der betreuende Elternteil neben dem Betreuungsunterhalt restlichen Barunterhalt in Form von Naturalunterhalt. Die andere Hälfte des Kindergelds, die der betreuende Elternteil erhält, ist nicht einkommenserhöhend zu berücksichtigen (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 29. September 2021 – XII ZB 474/20 – FamRZ 2021, 1965).
Im Rahmen eines Abänderungsverfahrens zum Kindesunterhalt stellte sich die Frage, ob die teilweise Deckung des Unterhaltsbedarfs der Kinder mittels Gewährung von Wohnraum bei der Bemessung des Kindesunterhalts zu berücksichtigen ist oder nicht. Das OLG (OLG Frankfurt, FamRZ 2021, Seite 191) hat den Unterhaltsanspruch um eine Einkommensgruppe herabgestuft mit dem Argument, dass die Deckung des Wohnbedarfs der Kinder dadurch angemessen berücksichtigt sei. Im vorliegenden Fall hat der betreuende Elternteil (Mutter) weder Ehegattenunterhalt geltend gemacht, noch, dass der barunterhalspflichtige Elternteil (Vater) eine Nutzungsentschädigung für die Überlassung der gemeinsamen Wohnung an den betreuenden Elternteil geltend gemacht hat.
Bei der Berechnung eines Mehrbedarfs/Sonderbedarfs hat das OLG der Mutter das mietfreie Wohnen bei der Einkommensbemessung und der Ermittlung der Beteiligungsquote am Mehrbedarf/Sonderbedarf als Wohnvorteil zugerechnet.
Der BGH hat das Urteil des OLG für teilweise „fehlerhaft“ erachtet und insbesondere zu folgenden Rechtsfragen Stellung genommen:
- Mietfreies Wohnen
Die Frage der Behandlung des Überlassens von Wohnraum an das Kind kommt nach Auffassung des BGH auch dem Kind zugute, wodurch der Barunterhaltspflichtige dadurch Naturalunterhalt leistet und somit von der Unterhaltspflicht gegenüber dem Kind teilweise befreit sein kann (so BGH, FamRZ 2013, Seite 191). Auch die überwiegende Auffassung in der Literatur erkennt die Möglichkeit einer bedarfsdeckenden Wirkung. Danach ist von Bedeutung, von wem das Kind den Wohnvorteil erhält.
a) Bei Wohnungsgewährung durch den betreuenden Elternteil findet keine Anrechnung statt, weil es sich insoweit um eine Drittleistung handelt, die den Barunterhaltspflichtigen nicht entlasten soll.
b) Bei Wohnungsgewährung durch den Barunterhaltspflichtigen ist das anders, durch die Wohnungsgewährung erfolgt insoweit Teilerfüllung der Unterhaltspflicht. Wenn die Praxis in diesen Fällen eine Kürzung des Tabellensatzes um 20 % durchführt, handele es sich um eine vereinfachte Form der Anrechnung als Erfüllung.
In den allermeisten Fällen liegt jedoch der Fall so, dass dem Kind die Wohnung vom betreuenden Elternteil zur Verfügung gestellt wird und somit das kostenfreie Wohnen des Kindes nicht den Kindesunterhaltsanspruch zwischen Barunterhaltspflichtigem und Kind beeinflusst. Das gilt auch, wenn z. B. der Wohnwert bereits im Rahmen der Berechnung eines Ehegattenunterhaltes oder bei einer Nutzungsentschädigung Berücksichtigung gefunden hat und das Kind den Wohnraum vom unterhaltsberechtigten, betreuenden Elternteil (letztendlich Fall b) von oben) zur Verfügung gestellt erhält.
Der BGH führt in seiner Entscheidung aus, dass grundsätzlich das mietfreie Wohnen des Kindes die Höhe des Kindesunterhaltes nicht beeinflusst. Die kostenfreie Zurverfügungstellung von Wohnraum wird vorrangig im unterhaltsrechtlichen Verhältnis zwischen den Eltern ausgeglichen (BGH, FamRZ 2013, Seite 191). So kann ein unterhaltsrechtlicher Ausgleich auch dadurch bestehen, dass der betreuende Elternteil keinen Anspruch auf Ehegattenunterhalt geltend machen kann, weil nach der Zurechnung des vollen Wohnwerts auf seiner Seite sich rechnerisch kein Ehegattenunterhalt mehr ergibt. Auch in diesen Fällen hat sich der betreuende Elternteil den Wohnwert zurechnen lassen und eine nochmalige Berücksichtigung des Wohnwerts (anteilig) beim Kindesunterhalt ist nicht geboten.
In Leitsatz 2 hält der BGH fest, dass die Eltern auch eine interne Vereinbarung treffen können, dass die Wohnkosten anteilig durch den Naturalunterhalt des Barunterhaltspflichtigen abgedeckt werden und somit von ihm bei der Barunterhaltspflicht in Abzug gebracht werden können. Insoweit ist jedoch der Barunterhaltsschuldner darlegungs- und beweisbelastet. Allein die Miteigentümerstellung reicht hierfür nicht aus.
Auch allein die Tatsache, dass weder Trennungsunterhalt von der Frau verlangt wird, noch, dass Nutzungsentschädigung vom Mann verlangt wird, ist nicht ausreichend. Denn die Tatsache, dass kein Trennungsunterhalt gezahlt bzw. verlangt wird kann auch der Tatsache geschuldet sein, dass, wie oben schon erwähnt, der Wohnwert bei der Ehefrau bei der Einkommensbemessung zur Berechnung eines Ehegattenunterhaltes eingestellt wurde und die Thematik des Wohnvorteils somit schon „verbraucht“ ist. Eine doppelte Berücksichtigung bei der Berechnung des Ehegattenunterhaltes und der nochmaligen Berücksichtigung durch Abzug von 20 % vom Kindesunterhalt darf es nicht geben.
Der erste und zweite Leitsatz dieses Beschlusses stellen klar, dass nur unter besonderen Voraussetzungen die Zurverfügungstellung von Wohnraum durch den Barunterhaltspflichtigen beim Kindesunterhalt als Naturalunterhaltsleistung und somit als Abzugsbetrag in die Unterhaltsbemessung eingestellt werden kann und der Barunterhaltspflichtige die Darlegungs- und Beweislast dafür trägt, dass der Wohnwertvorteil nicht schon anderweitig Berücksichtigung (z. B. bei der Ehegattenunterhaltsberechnung) gefunden hat.
- Berechnung Haftungsquote/Einkommen betreuender Elternteil
Im dritten Leitsatz beschreibt der BGH am Beispiel von Mehrbedarf und Sonderbedarf, was der Unterschied zwischen Mehrbedarf und Sonderbedarf ist. Zudem setzt der BGH seine neueste Rechtsprechung fort, dass bei der Einkommensermittlung des betreuenden Elternteils auch dessen Naturalleistungen für Kinder auf deren Barunterhalt zu berücksichtigen sind (so schon der BGH zum Elternunterhalt in BGH, FamRZ 2017, Seite 711 und zum Ehegattenunterhalt, BGH, FamRZ 2021 Seite 1965).
Zur Einordnung von zusätzlichen Bedarfsbeträgen hält er fest, dass Mehrbedarf (regelmäßig wiederkehrender Bedarf) solche Kosten sind, welche ihrer Art nach nicht in den Tabellenbedarf und mithin auch nicht in die Steigerungsbeträge bis 200 % des Mindestunterhaltes einkalkuliert sind. Hieran hat sich der betreuende Elternteil grundsätzlich im Verhältnis der Einkommensverhältnisse zu beteiligen, wobei bei der Gegenüberstellung der beiderseitigen unterhaltsrelevanten Einkünfte der Eltern bei beiden Elternteilen ein Sockelbetrag in Höhe des angemessenen Selbstbehaltes abzuziehen ist.
Einschub des Verfassers:
Bei dieser Definition von Mehrbedarf durch den BGH darf die Frage erlaubt sein, warum nach allen Leitlinien der Krankenversicherungsbedarf bei privater Krankenversicherung des Kindes (wenn das Kind nicht bei einem Elternteil familienmitversichert ist oder sein kann) dieser allein vom Barunterhaltspflichtigen zu übernehmen ist und nicht als Mehrbedarf angesehen wird. Der private Krankenversicherungsbedarf ist nicht im Tabellenbedarf der Düsseldorfer Tabelle berücksichtigt und müsste dann qua Definition des BGH Mehrbedarf sein, der quotal auf die Elternteile aufzuteilen wäre.
Den Sonderbedarf beschreibt der BGH als einen unregelmäßigen, außergewöhnlich hohen Bedarf, welcher neben dem Barunterhalt auch für die Vergangenheit verlangt werden kann. Dieser Sonderbedarf muss überraschend aufgetreten sein und der Höhe nach nicht voraussehbar.
Im Leitsatz 3 spiegelt sich dann wider, wie der BGH nach neuester Rechtsprechung die Haftungsquote zur Berechnung von Mehrbedarf/Sonderbedarf ermittelt, insbesondere, wie das unterhaltsrechtlich relevante Einkommen des betreuenden Elternteiles zu ermitteln ist.
Der BGH weist darauf hin, dass bei der Berechnung des Einkommens bei der betreuenden Mutter auch der von ihr zu tragende Naturalunterhalt für die Kinder abzuziehen ist und somit sich die Haftungsquote zugunsten der betreuenden Mutter verändert. Der BGH begründet dies damit, dass der Bedarf eines Kindes sich nach dem gemeinsamen Einkommen beider Elternteile grundsätzlich bestimmt, der Barunterhaltspflichtige aber nur zur Zahlung des Unterhalts verpflichtet ist, den er bei Berücksichtigung nur seines Einkommens zu bezahlen hat. So verbleibt häufig ein offener Bedarf des Kindes. Daher sei von den Erwerbseinkünften des betreuenden Elternteils der Barunterhaltsbedarf der Kinder nach den gemeinsamen Einkünften der Eltern abzüglich des hälftigen auf den Barunterhalt des Vaters entfallenden Kindergeldes und abzüglich des vom Vater geleisteten Barunterhalts abzusetzen.
Beispiel:
Kindesunterhalt nach zusammengezähltem Einkommen der Eltern,
15. Einkommensgruppe DT 1066,00 €,
abzüglich derzeit hälftiges Kindergeld 109,50 €,
= 956,50 €,
abzüglich des aus dem Einkommen des Vaters alleine zu zahlenden
Unterhaltes aus der 12. Einkommensgruppe nach Abzug von hälftigem
Kindergeld, mithin 814,00 €
verbleiben Restbedarf des Kindes i.H.v. = 142,50 €
das soll der „Naturalunterhalt“ sein, den die Mutter dann noch zu leisten hat und von ihrem unterhaltsrechtlich relevanten Einkommen abzuziehen ist und zu ihren Gunsten die Verteilungsquote von Mehrbedarf/Sonderbedarf verändert.
Diese Rechtsprechung des BGH übersieht nach diesseitiger Auffassung § 1606 Abs. 3 Satz 2 BGB, wonach den betreuenden Elternteil keine Barunterhaltspflicht trifft und faktisch der oben errechnete Betrag von 142,50 € den Geldbeutel des betreuenden Elternteiles nicht belastet. Nicht umsonst erfährt diese Rechtsprechung Kritik. Mag zur Minimierung des nachrangigen Elternunterhaltes, bei dem diese Argumentation aufgekommen ist (BGH, FamRZ 2017, Seite 711), dies noch hinzunehmen sein, so steht bei der Bemessung des unterhaltsrechtlich relevanten Einkommens des betreuenden Elternteiles dies eben im Widerspruch, wonach der betreuende Elternteil eben seiner Unterhaltspflicht allein durch die Betreuung nachkommt (§ 1606, Abs. 3 Satz 2 BGB). Ob diese Rechtsprechung nunmehr bei jeder Berechnung eines Ehegattenunterhaltes im Zusammenhang mit betreuenden Eltern anzuwenden ist, bleibt offen, denn im hier vorliegenden Fall geht es letztendlich nur um die Quotenermittlung für Mehr- und Sonderbedarf und beim im Leitsatz 3 zitierten Urteil um die Erfüllung eines höheren Wohnbedarfs von Kindern (ebenso kritisch Werner Schwamb in Famrb 2022, Seite 344 u. a.).
Weil das OLG insbesondere entscheidende Fragen zum Wohnwertvorteil und zur Bestimmung der jeweiligen Einsatzeinkommen beim Mehrbedarf/Sonderbedarf nicht beachtet hat und somit Feststellungen fehlen, hat der BGH das Verfahren an das OLG zurückverwiesen und dem OLG noch einige Hinweise für die weitere Sachbehandlung erteilt. So z. B. der Hinweis, dass bei Ermittlung der Unterhaltsquote keine fiktiven Einkünfte der Mutter einzustellen sind. Insbesondere weist der BGH darauf hin, dass wenn sich herausstellen sollte, dass die Mutter nicht wegen des vollen Wohnwertvorteils von der Geltendmachung eines Getrenntlebendunterhaltes abgesehen hat (und somit der Wohnwertvorteil noch nicht „verbraucht“ ist), dass dann nach der Rechtsprechung des BGH der Miteigentumsanteil des Vaters an der Wohnung zu einer teilweisen Deckung des Barbedarfs der Kinder führen wird.
Bedauerlicherweise wirft dieses Urteil viele Fragen auf und bürdet dem Unterhaltspflichtigen eine erhöhte Darlegungslast auf, indem der BGH fordert, dass letztendlich er in jedem Fall rechnerisch darlegen muss, dass der Wohnwert noch an keiner anderen Stelle bei finanziellen Ausgleichszahlungen (Unterhalt oder Nutzungsentschädigung) Berücksichtigung gefunden hat.
Ehescheidung
OLG Brandenburg, Beschluss vom 12.02.2021 – Az. 13 WF 123/20 – §§ 43, 44 FamGKG
NZFam 2022, Seite 559
Vorhandenes Vermögen der Ehegatten ist bei der Festsetzung des Verfahrenswertes für ein Scheidungsverfahren i. H. v. 5 % des Betrages zu berücksichtigen, um den es einen Freibetrag von 60.000 € je Ehegatte und 10.000 € je minderjährigem Kind übersteigt.
Das Familiengericht hat aufgrund er Nettoeinkommen der beiden Ehegatten i. H. v. 2.600 € und 2.300 €, in der Summe 4.900 € den Gegenstandswert für die Scheidung entsprechend § 43 Abs. 2 FamGKG mit dem 3-fachen Monatsbetrag, somit i. H. v. 14.700 € festgesetzt (hinzu kam der Gegenstandswert für den Versorgungsausgleich i. H. v. 10 % des Verfahrenswertes der Scheidung für jedes Versorgungsanrecht). Die Beteiligten hatten im Verfahren den Wert der unbelasteten Immobilien mit 130.000 € und ein Bankguthaben von 110.000 € mitgeteilt. Das Gericht hat jedoch die Vermögenswerte nicht beim Verfahrenswert der Scheidung berücksichtigt, hiergegen hat der Rechtsanwalt eines beteiligten Ehegatten Beschwerde eingelegt.
Zurecht hat das OLG der Beschwerde stattgegeben und den Vermögenswert von insgesamt 240.000 € (auch wenn diesbezüglich keinerlei Streitpunkte vorlagen) wie folgt für den Gegenstandswert miteinbezogen:
§ 43 Abs. 1 FamGKG sind die Vermögensverhältnisse der Beteiligten angemessen zu berücksichtigen. In welcher Höhe dies zu geschehen hat, wird von den Oberlandesgerichten (derartige Fragen gelangen grundsätzlich nicht zum BGH, da der Instanzenzug beim OLG endet) unterschiedlich gehandhabt. Grundsätzlich werden vom Nettovermögen zunächst Freibeträge von 60.000 € pro Ehegatten abgezogen und für minderjährige Kinder pro Kind 30.000 € (z. B. OLG Nürnberg), das OLG Brandenburg geht von 10.000 € Abzugsbetrag pro minderjährigem Kind aus. Im vorliegenden Fall waren von den 240.000 € Reinvermögen 2 mal 60.000 € für die Ehegatten abzuziehen (keine minderjährigen Kinder vorhanden), somit verblieben 120.000 €. Hiervon hat das Gericht dann 5 %, mithin 6.000 € dem Verfahrenswert der Scheidung hinzuaddiert, mit der Folge, dass der Gegenstandswert der Scheidung sich dann auf 20.700 € erhöht. Der Gegenstandswert des Versorgungsausgleichs wird weiterhin berechnet aus dem 3-fachen Familieneinkommen ohne Erhöhung durch Berücksichtigung des Vermögens bzw. ohne Verminderung durch Berücksichtigung von Freibeträgen für Kinder (weiterhin dann 10 % aus 14.700 € für jedes Versorgungsanrecht).
Die Oberlandesgerichte gehen zumeist von 5 % des um Freibeträge bereinigten Nettovermögens für die Berechnung des zusätzlichen Gegenstandswertes aus. Das OLG Stuttgart hatte im Jahr 2009 lediglich 2,5 % angesetzt, das OLG Düsseldorf im Jahr 2010 10 %, Das OLG Brandenburg hat hier 5 % angesetzt, was nach Kenntnis des Verfassers auch in fast allen Oberlandesgerichtsbezirken so gemacht wird. Nach der Gesetzeslage verbleiben den Gerichten jedoch weiterhin Ermessensspielräume, eines ist jedoch klar: nach dem ausdrücklichen Wortlaut des § 43 Abs. 1 FamGKG ist das Vermögen im Rahmen der Verfahrenswertfestsetzung zu berücksichtigen. Der Rechtsanwalt ist berechtigt, gemäß §§ 32 Abs. 2 RVG, 59 FamGKG in eigenem Namen Beschwerde einzulegen. Die beteiligten Eheleute sind natürlich bestrebt, den Verfahrenswert möglichst gering zu halten, die Gesetzeslage gibt jedoch vor wie der Gegenstandswert zu berechnen ist und dass das Vermögen hierbei angemessen zu berücksichtigen ist. Im vorliegenden Fall ergab sich eine Erhöhung der Nettogebühren von ca. 200 €.
Exkurs Gebührenrecht Scheidung:
Der Verfahrenswert der Scheidung ergibt sich zum einen aus dem Verfahrenswert der Scheidung (3-faches Nettofamilieneinkommen zzgl. etwaiger erhöhter Verfahrenswert aus bestehendem Vermögen, mindestens 3.000 €, maximal 1 Mio. €) zzgl. weiterer Verfahrenswerte für die sog. Scheidungsfolgesachen wie Versorgungsausgleich, möglicherweise Unterhalt, Zugewinn, elterliches Sorgerecht etc.. Zu dem Vermögen, welches im Regelfall mit 5 % nach Abzug von Freibeträgen dem Verfahrenswert für die Ehescheidung hinzuaddiert wird, gehört sämtliches Vermögen beider Eheleute, wie Grundeigentum, Sparguthaben Lebensversicherungen, Aktiendepots, Bausparguthaben etc.. Dies ist unabhängig von einer Zugewinnberechnung, bei der etwaige Anfangsvermögenswerte oder privilegierte Anfangsvermögenswerte (Erbschaften/Schenkungen während der Ehe) vom Endvermögen abgezogen werden. Abzuziehen sind natürlich bestehende Verbindlichkeiten, letztendlich das gesamte aktive Vermögen beider Eheleute zum Zeitpunkt der Einreichung des Scheidungsantrages. Auch für die Bemessung des Verfahrenswertes aus Einkommen ist maßgeblich der Zeitpunkt der Einreichung des Scheidungsantrages.
Zu den Anwaltskosten kommen noch Gerichtskosten, die von Gesetzes wegen direkt vom Gericht mit den Parteien abgerechnet werden. Insoweit verlangt das Gericht, bevor der Scheidungsantrag zugestellt wird, eine sogenannte 2-fache Gerichtskostengebühr, die das Gericht aus den vorläufigen Angaben im Scheidungsantrag bemisst und ggf. festsetzt. Spätestens mit dem Scheidungsendbeschluss nach Anhörung der beteiligten Eheleute im Scheidungsverfahren, in welchem diese sowohl Angaben zum Einkommen und zum Vermögen zum Zeitpunkt der Einreichung des Scheidungsantrages machen müssen (Anhörung), wird dann der Verfahrenswert endgültig festgesetzt. Hiernach bestimmen sich Gerichts- und Rechtsanwaltsgebühren.
Jede Partei hat üblicherweise die Hälfte der tatsächlich anfallenden Gerichtskosten zu tragen (Kostenaufhebung). Der Antragsteller im Scheidungsverfahren, ebenso ein Antragsteller in anderen familienrechtlichen Verfahren, muss mit der Antragseinreichung zunächst die vollen Gerichtskosten einbezahlen. Mit Abschluss des Verfahrens erfolgt dann ein sogenanntes Kostenfestsetzungsverfahren, in welchem dann ein Kostenausgleich stattfindet.
Die Gerichtskosten eines Scheidungsverfahrens werden grundsätzlich geteilt, d. h., jede der Parteien hat die Hälfte der Gerichtskosten zu tragen. Die Kosten für den Rechtsanwalt hat jeder Ehegatte selbst zu tragen (Grundsatz der Kostenaufhebung). Wenn somit bei einer einvernehmlichen Scheidung nur der/die Antragsteller/in einen Anwalt beauftragt, hat der andere (Scheidungsgegner) keine Anwaltskosten zu tragen, es sei denn, bei einer einvernehmlichen Scheidung einigen sich die Parteien darauf, dass die Kosten einschließlich der Anwaltskosten des/der Antragstellers/in geteilt werden.
Ist man sich bei einer einvernehmlichen Scheidung einig darüber, dass die Kosten hälftig geteilt werden, sollte man im Gerichtsverfahren bereits beantragen, dass die Kosten nicht gegeneinander aufgehoben werden, sondern dass die Kosten hälftig geteilt werden. Ein solcher Kostenausspruch führt dazu, dass dann auch die Anwaltskosten des einen Ehepartners hälftig zwischen den Parteien aufzuteilen sind.
Mit der Scheidung aber auch während des laufenden Scheidungsverfahrens können sogenannte Scheidungsfolgesachen anhängig gemacht (geltend gemacht) werden. Damit diese Folgesache im sogenannten Scheidungsverbund mitentschieden wird, muss diese mindestens 2 Wochen vor einem anberaumten Scheidungstermin bei Gericht anhängig gemacht werden (bis spätestens 24.00 Uhr des Vortages der 2-Wochen-Frist). Durch derart kurzfristige Einreichung von Folgesachen kann ein Scheidungsverfahren hinausgezögert werden.
Jede Scheidungsfolgesache erhöht den Verfahrenswert. Bei einer Scheidung muss das Gericht von Amts wegen neben der Scheidung nur den Versorgungsausgleich mitregeln. In dem seit 01.09.2009 in Kraft getretenen FamGKG bestimmt § 50, dass für jedes Versorgungsanrecht 10 % des Verfahrenswertes der Scheidung (20 % bei schuldrechtlichem VA) angesetzt werden, mindestens 1.000 €.
Wie bereits oben dargelegt, wird in einem Scheidungsverfahren von einem Familienrichter nichts Weiteres geregelt als die Scheidung selbst und der Versorgungsausgleich, es sei denn, sog. Folgesachen werden von einer Partei in das Scheidungsverfahren eingeführt und entsprechende Anträge gestellt. Anträge stellen kann nur derjenige, der anwaltlich vertreten ist.
Der Verfahrenswert von Folgesachen berechnet sich wie folgt:
- Sorgerecht: Im Scheidungsverfahren ist der Verfahrenswert für die Scheidung gem. § 44 Abs. 2 FamGKG für jede Kindschaftssache um 20 % zu erhöhen, höchstens um jeweils 4.000 €.
- Umgangsrecht: Hier gilt das zum Sorgerecht Gesagte.
- Unterhalt: Als zusätzlicher Verfahrenswert wird der 12-fache Monatsbetrag des geltend gemachten Unterhalts zzgl. eines etwaigen Rückstands zum Zeitpunkt der Einreichung des Antrags angesetzt. Bei einer Unterhaltsforderung z. B. in Höhe von 500 € beträgt dann der weitere Verfahrenswert 500 € x 12 Monate, somit 6.000 € (§ 51 Abs. 1,2 FamGKG).
- Zugewinnausgleich: Verfahrenswert ist der geforderte Betrag, der als Zugewinnausgleichsforderung geltend gemacht wird, ggf. addiert mit dem Zugewinnbetrag, den der Verfahrensgegner im Wege des Widerantrages geltend macht.
- Rechtsverhältnis an Ehewohnung und Haushaltssachen: In Wohnungszuweisungssachen im Zusammenhang mit der Scheidung beträgt der Verfahrenswert 4.000 € (§ 48 Abs. 1 FamGKG). In Haushaltssachen beträgt der Verfahrenswert im Zusammenhang mit der Scheidung 3.000 € (§ 48 Abs. 2 FamGKG).
- Einstweilige Anordnungen: Im Scheidungsverbund können Folgesachen, wie Unterhalt, Hausrat, Ehewohnung, Sorge- und Umgangsrecht in einem sog. Schnellverfahren vorläufig geregelt werden; dies nennt man einstweilige Anordnungen. Der Verfahrenswert von einstweiligen Anordnungen wird in der Regel unter Berücksichtigung der geringeren Bedeutung gegenüber der Hauptsache zu ermäßigen sein. Dabei ist nach § 41 FamGKG von der Hälfte des für die Hauptsache des bestimmten Wertes auszugehen. In Wohnungszuweisungssachen beträgt der Verfahrenswert einer einstweiligen Anordnung somit im Regelfall 2.000 €, für Haushaltssachen 1.500 €. In Unterhaltssachen bestimmt sich der Verfahrenswert nach dem 6-monatigen Unterhaltsbetrag.
Grundsätzlich werden im Scheidungsverfahren sämtliche Verfahrenswerte der einzelnen Scheidungsfolgesachen zusammengezählt. Hieraus wird deutlich, dass die Kosten einer Scheidung dadurch verringert werden können, dass möglichst viele Scheidungsfolgesachen (Unterhalt/Zugewinn etc.) außergerichtlich geregelt werden. Wenn natürlich außergerichtlich Rechtsanwälte hiermit beauftragt werden, fallen außergerichtlich Rechtsanwaltsgebühren an, die im Regelfall jedoch deutlich geringer sind, zumal es nicht mehrere Instanzen geben kann.
Im Regelfall fällt im Scheidungsverfahren eine sog. 1,3-Verfahrensgebühr sowie eine sog. 1,2-Terminsgebühr aus dem Verfahrenswert zzgl. Auslagenpauschale zzgl. MwSt. an.
Die Gebührentabelle und die Höhe der Gebühren ergeben sich aus dem Rechtsanwaltsvergütungsgesetz. Gibt es zu Scheidungsfolgesachen einen Vergleich, so kommt eine weitere 1,5-Einigungsgebühr aus dem Verfahrenswert über den man sich geeinigt hat, hinzu. Werden im Scheidungstermin Angelegenheiten mitverglichen, so wird auch dies im Rahmen der Gebühren berücksichtigt. Einzelheiten zum Scheidungsrecht und insbesondere zu den Kosten inkl. Gebührentabellen finden Sie im Merkblatt Nr. 5 des Verbandes ISUV.
Wechselmodell
OLG Dresden, Beschluss vom 12.04.2022 – 21 UF 304/21 – §§ 1684, 1696 BGB
NZFam 2022, Seite 610
Ein Wechselmodell kann gegen den Willen eines Elternteils auch bei einer erheblichen Störung der elterlichen Kommunikation gerichtlich angeordnet werden, wenn das Wechselmodell seit geraumer Zeit tatsächlich gelebt wird, es dem beachtlichen Willen des Kindes entspricht (Kind 12 Jahre alt) und nachteilige Auswirkungen auf das Kind nicht feststellbar sind.
Die Eltern haben seit Ende 2018 einen erweiterten Umgang, 14-tägig von Donnerstag bis Dienstag, gelebt. Das Familiengericht hat auf Antrag des Vaters Anfang des Jahres 2021 ein paritätisches Wechselmodell beschlossen, gestützt auf den Kindeswillen. So wurde es auch für knapp ein Jahr bis zur Entscheidung des OLG gelebt. Eine außergerichtliche Mediation war gescheitert, eine direkte Kommunikation hat nicht mehr stattgefunden, sogar eine Strafanzeige des Vaters gegen die Mutter lag vor. Die Mutter hat sich gegen ein Wechselmodell ausgesprochen, da keine Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit zwischen den Eltern vorliegt. Das OLG hat das Wechselmodell bestätigt und sogar von einem Sachverständigengutachten abgesehen, obwohl Verhaltensauffälligkeiten beim Kind von der Mutter vorgetragen wurden.
OLG Brandenburg, Beschluss vom 14.03.2022 – 9 UF 191/21 – §§ 1684, 1697 a BGB
NZFam 2022, Seite 749
Kommunizieren die Eltern ausschließlich per E-Mail oder über ihre Rechtsanwälte und sind sie nicht in der Lage, im Interesse des gemeinsamen Kindes aufeinander zuzugehen und organisatorische Aspekte der Kinderbetreuung zu besprechen, fehlt es an der für die Anordnung des Wechselmodells erforderlichen Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit der Eltern.
Hier war das Kind 7 Jahre alt, die Wohnorte liegen ca. 20 km auseinander. Beide Elternteile sind berufstätig, arbeiten jeweils Teilzeit. Seit der Trennung lediglich Kommunikation per E-Mail oder über Rechtsanwälte. Gestützt auf den Willen des Kindes hat das Amtsgericht Ende 2021 ein paritätisches Wechselmodell im wöchentlichen Wechsel angeordnet und den Ferienumgang hälftig aufgeteilt. Die Mutter legt hiergegen Beschwerde ein. Vater, Jugendamt und Verfahrensbeistand verteidigen die Entscheidung des Amtsgerichts.
Das OLG hat die erstinstanzliche Entscheidung aufgehoben. Es hat dem Umgang des Kindes mit dem Vater – wie zuvor praktiziert – auf die ungeraden Kalenderwochen von Donnerstag bis zum darauffolgenden Montag festgelegt und den hälftigen Ferienumgang belassen. Das OLG stellt fest, dass sich die Eltern feindselig und unversöhnlich gegenüberstehen, eine Kompromissbereitschaft sei bei beiden nicht zu erkennen. Allein dieser Streit der Eltern wird auf dem Rücken des Kindes ausgetragen. Auch wenn der Kindeswille in Richtung eines Wechselmodells geht, befindet sich das Kind in einem Loyalitätskonflikt und kann in seinem Alter die Tragweite noch gar nicht erfassen. Da die Umgangsregelung die vormals bestand funktioniert hat, ist darauf zurückzugreifen.
Das OLG stellt ausschließlich auf die fehlende Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit der Eltern ab.
OLG Dresden, Beschluss vom 27.04.2022 – 21 UF 71/22 – §§ 1684, 1696 BGB
FamRZ 2022, Seite 1208
- Zu den Voraussetzungen der Begründung eines Wechselmodells im Wege der Abänderung einer bestehenden gerichtlichen Umgangsregelung – hier verneint –, da kein gemeinsamer Elternwille.
- Bei Kleinkindern bestehen im Hinblick auf ihre seelischen Bedürfnisse Bedenken gegen die Anordnung eines paritätischen Wechselmodells.
Die Kinder sind 3 und 5 Jahre alt. Es besteht eine familiengerichtlich gebilligte Umgangsregelung im erweiterten 2-Wochen-Rhythmus. Der Vater begehrt ein paritätisches Wechselmodell, der größere Sohn habe diesen Wunsch öfters geäußert. Die Mutter wendet ein, dass die Kommunikationsebene der Eltern schlecht sei.
Das Familiengericht hat das Wechselmodell abgelehnt, da es keinen Grundsatz gäbe, dass ein paritätisches Wechselmodell dem Kind mehr entspräche, als jedes andere Betreuungsmodell. Das Familiengericht stellt fest, dass bei der Frage zur Betreuungssituation beide Eltern das Wohl ihrer Kinder aus dem Blickwinkel verloren hätten und nicht bereit seien, ihre eigenen Wünsche/Bedürfnisse gegenüber denen ihrer Kinder hintanzustellen. Hiergegen legt der Vater Beschwerde ein, das OLG weist die Beschwerde zurück.
Das OLG sieht eine Abänderungsmöglichkeit einer vormaligen gerichtlichen Umgangsregelung nur dann, wenn dies aus triftigen, das Wohl des Kindes nachhaltig berührenden Gründen angezeigt ist (§ 1696 BGB). Zudem führt das OLG aus, dass auch hiervon unabhängig Bedenken bestehen. Das Wechselmodell als Umgangsrecht dient nicht dazu, den Wunsch eines Elternteils nach gleichwertiger Teilhabe am Lebens des Kindes zu verwirklichen. Auch ein Umgang – wie praktiziert – alle 14 Tage von Freitagnachmittag bis Dienstagmorgen erfüllt die Grundbedürfnisse von Kindern auf Umgang. Auch das Alter des Kindes ist von Bedeutung. Bei 3-jährigen Kleinkindern bestehen Bedenken für ein Wechselmodell, häufige Wechsel können für Kleinkinder einen erheblichen Stress bedeuten (Salzgeber, NZFam 2014, Seite 921 ff.; Heilmann, NJW 2015, Seite 3346; Kindler/Walper, NZFam 2016, Seite 822; Castellanos/Hertkorn, Psychologische Sachverständigengutachten im Familienrecht, Teil II, Rz. 285).
Auch wenn die Kinder oder das größere Kind den Wunsch geäußert haben auf mehr Zeit mit dem Vater, so kann das in dem Alter auch mit einem Loyalitätsdruck erklärt werden (BVerfG, FamRZ 2015, Seite 210). Zudem mag zwar ein Konsens der Eltern zum Wechselmodell keine Voraussetzung für ein Wechselmodell sein, trotz alledem wird in der Praxis die gerichtliche Anordnung eines paritätischen Wechselmodells gegen den Willen eines Elternteils nur in wenigen Fällen kindeswohldienlich sein, denn dem Kind wird diese Ablehnung auf Dauer nicht verborgen bleiben (OLG Dresden, FamRZ 2021, Seite 1805; OLG Bremen, FamRZ 2018, Seite 1908).
OLG Brandenburg, Beschluss vom 16.09.2021 – 10 UF 34/21 – §§ 1684, 1697 a BGB
FamRZ 2022, Seite 1210
Bei hoher elterlicher Konfliktbelastung und entgegenstehendem Willen des 14-jährigen Kindes entspricht die Anordnung eines Wechselmodells nicht dem Kindeswohl.
Mit dieser Entscheidung fasst das OLG Brandenburg die von der Rechtsprechung entwickelten Kriterien zusammen und begründet die Ablehnung eines Wechselmodells für ein 14-jähriges Kind zum einen mit der hohen elterlichen Konfliktbelastung, zum anderen mit dem maßgeblichen Kindeswillen. Im Verfahren war es unklar, was das Kind selbst „will“, beim OLG hat sich dann herausgestellt, dass das Kind den 14-tägigen Umgangsrhythmus für gut befindet.
Das OLG schickt in seiner Begründung voraus, dass der entscheidende Maßstab immer das Kindeswohl ist. Es ist immer die Reglung zu treffen, die dem Kindeswohl nach § 1697 a BGB am besten entspricht (BVerfG, FamRZ 2010, Seite 1622). Die Anordnung eines Wechselmodells ist dabei unter dem Gesichtspunkt des Umgangsrechts auch gegen den Willen eines Elternteils zulässig (grundlegend BGH, FamRZ 2017, Seite 532, ebenso u. a. OLG Brandenburg, FamRZ 2021, Seite 34). Die Kriterien können wie folgt zusammengefasst werden:
- ungefähr gleiche Erziehungskompetenzen der Eltern
- sichere Bindungen des Kindes zu beiden Eltern
- gleiche Beiträge beider Eltern zur Entwicklungsförderung
- Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit beider Eltern zur Bewältigung des erhöhten Abstimmungs- und Kooperationsbedarfs
- keine Erwartung oder Verschärfung eines Loyalitätskonflikts des Kindes durch die Konfliktbelastung der Eltern
- autonom gebildeter, stetiger Kindeswille
Das Wechselmodell ist danach anzuordnen, wenn die geteilte Betreuung durch beide Eltern im Vergleich mit anderen Betreuungsmodellen dem Kindeswohl im konkreten Fall am besten entspricht (BGH, FamRZ 2020, Seite 258). An diesen Kriterien erkennt man, dass immer im Einzelfall zu entscheiden ist. Im vorliegenden Fall ging das OLG davon aus, dass das 14-jährige Kind seinen Willen autonom gebildet hat und hat auch zu bedenken gegeben, dass auch dann, wenn der Kindeswille nicht immer dem Kindeswohl entspricht, dass der Kindeswille für eine gerichtliche Entscheidung umso mehr wiegt, je älter das Kind ist und dessen Persönlichkeit gereift ist. Starre Altersgrenzen gibt es insoweit nicht, bei dem hier 14-jährigen Kind ist das Gericht von entsprechender Persönlichkeitsreife ausgegangen. Das Kind hat sich gegen ein Wechselmodell ausgesprochen.
Darüber hinaus hat das OLG darauf hingewiesen, dass das Wechselmodell bei der vorlegenden hohen elterlichen Konfliktbelastung (fortwährende sorgerechtliche und umgangsrechtliche Streitigkeiten vor Gericht seit der Trennung 2014/hochstrittige Elternschaft) in der Regel ohnehin nicht dem Kindeswohl entspricht. In derartigen Fällen sind die Kinder mit dem elterlichen Streit konfrontiert und geraten durch den von den Eltern oftmals ausgeübten „Koalitionsdruck“ in Loyalitätskonflikte. Zudem ist es den Eltern aufgrund ihres Streits oft nicht möglich, die für die Erziehung des Kindes nötige Kontinuität und Verlässlichkeit zu schaffen (BGH, FamRZ 2020, Seite 255; FamRZ 2017, Seite 532 u. a.). Für die Anordnung des Wechselmodells ist ein Mindestmaß an Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit der Eltern erforderlich. Wer über Jahre hinweg durch zahlreiche Gerichtsverhandlungen zeigt, dass man nicht miteinander kann, kann auch kein Wechselmodell.
Mit dieser Entscheidung fasst das OLG Brandenburg den derzeitigen „Meinungsstand“ zum Wechselmodell auch gegen den Willen eines Elternteils zusammen. Weit ausführlicher der zu dieser Thematik veröffentlichte Aufsatz von Born in NZFam 2022, Seite 821 ff. oder die Zusammenfassung der Rechtsprechungsübersicht des Jahres 2021 bis heute im Aufsatz von Opitz, NZFam 2022, Seite 773:
Zwischenzeitlich erscheint es in der Rechtsprechung eindeutig, dass dem Grunde nach Fragen des Wechselmodells umgangsrechtlicher Natur sind und daher in sogenannten umgangsrechtlichen Verfahren zu klären sind (zuletzt BGH, FamRZ 2022, Seite 601). Die Unterscheidung und Klarstellung ist deshalb von Bedeutung, da es sich bei Sorge- und Umgangsrecht um eigenständige Verfahrensgegenstände handelt. Soweit diese formale Frage durch die zuletzt genannte BGH-Entscheidung geklärt zu sein scheint, so ist und wird weiterhin die Bandbreite der Einschätzungen zur Kindswohldienlichkeit eines Wechselmodells groß und naturgemäß einzelfallabhängig sein.
Auch wenn oftmals aufgrund „moderner“ Entwicklungen der Gesellschaft die Auffassung vertreten wird, beim Wechselmodell handele es sich um einen Regelfall/Normalfall, eine sogenannte gesetzliche Vermutung, so ist dies nicht richtig. Auch die gesetzliche Normierung in anderen Ländern hilft hier nicht weiter. Es gibt in Deutschland weiterhin relativ wenige Forschungsergebnisse, die generelle Vorteile des Wechselmodells gegenüber dem Residenzmodell bejahen (näheres hierzu bei Born, NZFam 2022, Seite 821 mit Verweis auf weitere Literatur). Wenn in der Praxis bereits ein paritätisches Wechselmodell gelebt wurde und macht ein Elternteil dann einen Rückzieher, hat der andere Elternteil gute Aussichten auch vor Gericht das Wechselmodell auch für die Zukunft beizubehalten. Der ablehnende Elternteil muss dann plausible Gründe für eine Abänderung des bislang gelebten Wechselmodells vortragen. Dies gilt selbst dann, wenn erhebliche Kommunikationsstörungen der Eltern zwischenzeitlich vorliegen und nachteilige Wirkungen auf das Kind nicht feststellbar sind (OLG Dresden, NZFam 2022, Seite 610).
Viel häufiger sind jedoch die gerichtlichen Fälle, wonach ein Wechselmodell noch nicht praktiziert wurde und ein Elternteil ein solches begehrt. Dann greifen die Kriterien, die oben schon genannt sind. Soll eine Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit erst durch das Wechselmodell „herbeigeführt“ werden, scheidet ein Wechselmodell aus (BGH, FamRZ 2017, Seite 532). Auf der anderen Seite dürfen an die Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit nicht zu hohe Anforderungen gestellt werden, denn anderenfalls würde durch Blockadehaltung des ablehnenden Elternteils ohne triftigen Grund eine gerichtliche Anordnung zum Wechselmodell verhindert werden können, ein derartiges „Vetorecht“ hat der BGH ausdrücklich abgelehnt (BGH, FamRZ 2017, Seite 532). Für ein Wechselmodell sprechen geringe Entfernungen der Wohnorte der Eltern, große Entfernungen sprechen dagegen. Letztendlich muss bei Schulkindern die Schule von beiden Haushalten gut erreichbar sein (OLG Frankfurt a.M., FamRZ 2022, Seite 362 u. a. bei Zuzug eines Elternteils in die Nähe des Wohnortes des Kindes). Dass auch der Wille des Kindes ab einem gewissen Alter von Bedeutung ist, ist bereits oben anhand der OLG-Entscheidung skizziert worden.
Zusammenfassung:
- Die gerichtliche Anordnung eines Wechselmodells ist auch dann möglich, wenn ein Elternteil eine solche Regelung ablehnt.
- Kriterium ist das Kindeswohl, nicht der Wunsch eines Elternteils.
- An Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit dürfen keine übertriebenen Anforderungen gestellt werden/Einzelfall.
- Anlehnung an die Rechtslage in anderen Ländern, wonach das Wechselmodell als Regelfall ausdrücklich normiert ist, ist erstrebenswert (Belgien, Frankreich, Italien u. a., näheres hierzu bei Helms/Schneider, FamRZ 2020, Seite 813).
Die Gerichte werden auch in Zukunft damit beschäftigt sein im Einzelfall über die Anordnung eines Wechselmodells zu entscheiden, da letztendlich jedes Kind individuelle ist, als auch jede Konfliktsituation der Eltern seine eigene Dynamik hat. Der höchstrichterlichen Rechtsprechung wird es nur gelingen, Leitplanken zu setzen und Entscheidungskriterien festzuhalten. Lediglich der Gesetzgeber könnte in dieser Frage eingreifen, indem z. B. das Wechselmodell als gesetzlicher Regelfall normiert wird (so wie das gemeinsame Sorgerecht der gesetzliche Regelfall ist).